26. Oktober 2021
Unionsrecht oder nationales Recht - EuGH konkretisiert Ausnahmen von der Vorlagepflicht
Urteil des EuGH zur Vorlagepflicht der in letzter Instanz entscheidenden mitgliedstaatlichen Gerichte und zum Verhältnis zu prozessualen Verspätungsregeln
Mit Urteil vom 6. Oktober 2021 (C-561/19) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Verhältnis der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zu nationalen Präklusionsvorschriften geklärt. Ferner bestätigt der EuGH seine strenge Rechtsprechung zu den Ausnahmen von der Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte.
Gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV müssen mitgliedstaatliche Gerichte letzter Instanz, die in einem schwebenden Verfahren mit Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts konfrontiert sind, diese Fragen im Wege des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH vorlegen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Rechtsbehelf für die Parteien des Rechtsstreits. Vielmehr liegt nach Ansicht des EuGH die Feststellung einer Situation nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in der alleinigen Verantwortung des nationalen Gerichts. Dies hält die Parteien des Rechtsstreits jedoch nicht davon ab, Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts aufzuwerfen und auf deren Konsequenzen hinzuweisen. Denn ist die Auslegung von Unionsrecht im anhängigen Rechtsstreit vor einem Gericht letzter Instanz entscheidend, kann das Gericht nur in engen Grenzen von einer Vorlage an den EuGH absehen.
Die Vorlagepflicht für Fragen nach der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht besteht nach der strengen CILFIT-Rechtsprechung des EuGH nur dann nicht, wenn
- die unionsrechtliche Frage für die Entscheidung des nationalen Gerichts irrelevant ist,
- die relevante Vorschrift des Unionsrechts bereits in einem gleichgelagerten Fall durch den EuGH interpretiert wurde (acte éclairé) oder
- die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage verbleiben (acte clair).
Nachdem der italienische Consiglio di Stato (Staatsrat) im Jahr 2017 im identischen Verfahren bereits ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet hatte, drängten die Parteien des Rechtsstreits nun zur Klärung weiterer Fragen auf eine zweite Vorlage an den EuGH. Hierdurch sah sich der italienische Staatsrat veranlasst, den EuGH zu fragen, ob er zu einer weiteren Vorlage verpflichtet sei. Der EuGH antwortet dem italienischen Staatsrat nun, dass ein im identischen Rechtsstreit bereits durchgeführtes Vorabentscheidungsverfahren nicht von einer Vorlagepflicht für weitergehende Fragen hinsichtlich des Unionsrechts befreie. Die Vorlagepflicht bestehe nur dann nicht, wenn die Voraussetzungen für eine der drei genannten CILFIT-Ausnahmen gegeben sind.
Zusätzlich zu diesen Ausnahmen könne ein nationales Gericht jedoch auch aus Gründen des nationalen Prozessrechts von einer Vorlage absehen: Die von einer Partei des Rechtsstreits neu aufgeworfenen Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts begründeten nach italienischem Prozessrecht eine Änderung des Streitgegenstands, die im bereits fortgeschrittenen Verfahrensstadium verspätet war. Nach Ansicht des EuGH dürfe diese prozessuale Unzulässigkeit nach nationalem Recht auch auf die unionsrechtliche Vorlagepflicht durchschlagen und das Gericht von einem erneuten Vorabentscheidungsverfahren absehen. Voraussetzung sei jedoch, dass die Vorschriften des nationalen Prozessrechts für nationale und unionsrechtliche Sachverhalte gleich angewendet und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werde. Diese Gefahr bestehe bei nationalen Verfahrensvorschriften zur Vermeidung von Verzögerungen aber in der Regel nicht.
Mit Spannung erwartet wurden auch die Äußerungen des EuGH zur dritten CILFIT-Ausnahme, dem sogenannten acte clair. Hierfür hatte der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung so hohe Anforderungen formuliert, dass die Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Vorliegen eines acte clair bereits mit einer zufälligen „Begegnung mit einem Einhorn“ (GA Wahl, Schlussanträge vom 13. Mai 2015, verb. Rechtssache C-72/14 und C-197/14, Rn. 62, verglichen wurde. Vor der EuGH-Entscheidung hatte nun auch der zuständige Generalanwalt Michael Bobek in seinen Schlussanträgen dafür plädiert, die Ausnahmen von der Vorlagepflicht so anzupassen, dass sie realistisch angewendet werden könnten (GA Bobek, Schlussanträge vom 15. April 2021, Rechtssache C‑561/19
In seiner Entscheidung bleibt der EuGH jedoch seiner strengen Linie weitestgehend treu: Das nationale Gericht darf seine Entscheidung gegen eine Vorlage an den EuGH nur dann auf das Vorliegen eines acte clair stützen, wenn auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde. Es muss dabei die Eigenheiten und Auslegungsschwierigkeiten des Unionsrechts, die Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen, die Vielzahl der jeweils gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen, die besondere Terminologie mit autonom auszulegenden Begriffen des Unionsrechts und schließlich die Auslegung der relevanten Vorschrift im Lichte des gesamten Unionsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands berücksichtigen. All dies hat das Gericht in einer begründeten Entscheidung mit ausdrücklicher Bezugnahme auf die CILFIT-Rechtsprechung des EuGH darzulegen.
Weiterhin eine wahrhaft herkulische Aufgabe.
Autoren:
Dr. Lisa Feuerhake
Roman Gombsen, LL.M.