03.07.2023
BGH schickt dem EuGH „Botanicals“
Autor: Roman Gombsen
BGH schickt dem EuGH „Botanicals“
Am leuchtenden Sommermorgen
Geh ich im Garten herum.
Es flüstern und sprechen die Blumen,
Ich aber, ich wandle stumm.
(Heinrich Heine)
Pflanzen sind nicht nur beim morgendlichen Spaziergang, sondern auch in der Entwicklung von Lebensmitteln und insbesondere Nahrungsergänzungsmitteln beliebt. Dementsprechend erfreut sich auch die Produktkennzeichnung und Werbung mit gesundheitsbezogenen Angaben für Pflanzenstoffe und pflanzliche Zubereitungen (sogenannte „Botanical-Claims“) in der Praxis einer großen Beliebtheit. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für diese Art der gesundheitsbezogenen Werbung fristen hingegen seit Jahren ein kümmerliches Schattendasein: Von der Europäischen Kommission in die Abstellkammer verschoben und dort missachtet, in der Rechtsprechung unbeliebt und bei Unternehmen ein häufiger Anlass für wettbewerbsrechtliche Beanstandungen. Einige Hersteller dürften sich nach mühseligen rechtlichen Auseinandersetzungen daher veranlasst sehen, hinsichtlich der gesundheitlichen Wirkungen ihrer pflanzlichen Inhaltsstoffe „stumm“ zu bleiben. Doch nun bringt eine Vorlage des I. Zivilsenats am BGH vielleicht wieder etwas Licht ins Dunkel. Mit Beschluss vom 1. Juni 2023 (Az.: I ZR 109/22) legt der BGH dem EuGH die Frage vor, ob die zentralen Vorschriften der HCVO angesichts der andauernden Untätigkeit der Europäischen Kommission überhaupt noch anwendbar sind.
Einführung der HCVO
Zunächst ein Blick zurück: Seit dem 1. Juli 2007 regelt die „Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel“ („Health-Claims-Verordnung“ (HCVO)) u.a. die lebensmittelbezogene Gesundheitswerbung unionsweit einheitlich. Ihre zentrale Neuerung war die Einführung eines „Verbots mit Erlaubnisvorbehalt“ in Art. 10 Abs. 1 HCVO: Die Verwendung gesundheitsbezogener Angabe ist danach grundsätzlich verboten, unabhängig davon, ob diese inhaltlich zutreffen oder gesundheitlich unbedenklich sind. Eine Ausnahme von diesem Verbot gilt nur, wenn es sich um eine zuvor zugelassene gesundheitsbezogene Angabe aus der „Gemeinschaftsliste“ (VO (EU) Nr. 432/2012) handelt. Auch unspezifische Hinweise auf Vorteile für die Gesundheit oder das Wohlbefinden im Allgemeinen sind gemäß Art. 10 Abs. 3 HCVO nur dann erlaubt, wenn ihnen eine spezifische Angabe aus der Gemeinschaftsliste beigefügt ist.
Grundsätzlich können gesundheitsbezogene Angaben von Lebensmittelunternehmern zur Aufnahme in die Gemeinschaftsliste angemeldet werden. Sie werden dann von der Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wissenschaftlich geprüft und ggf. von der Europäischen Kommission zugelassen und in die Gemeinschaftsliste aufgenommen. Diesem Prüfungs- und Zulassungsverfahrens unterliegt auch die Frage, ob die behauptete Gesundheitswirkung eines bestimmten Stoffes wissenschaftlich tragfähig ist. Dieser Nachweis erfordert im Zulassungsverfahren in der Regel die Vorlage hochwertiger wissenschaftlicher Belege und ist damit keineswegs trivial.
Botanicals „on hold“
Drei Jahre nach Inkrafttreten dann die Vollbremsung: Im Jahr 2010 unterbrach die Kommission sämtliche Zulassungsverfahren für Angaben zu gesundheitlichen Wirkungen von Botanicals. In den Mitgliedstaaten bestanden unterschiedlichen Auffassungen dazu, wie für diese Stoffgruppe ein wissenschaftlicher Wirkungsnachweis zu führen sei: Unterliegen auch Botanical-Claims einem strengen wissenschaftlichen Nachweis mit hohen Anforderungen oder genügt hierfür ein vereinfachter Nachweis auf Grundlage etwa von Literaturbelegen? Vor dem Hintergrund, dass ein solcher „Traditionsnachweis“ sogar für traditionelle pflanzliche Arzneimittel zulässig ist, erschiene eine derartige Erleichterung auch im Rahmen der Lebensmittelwerbung für Botanicals sachgerecht. Ohne eine diesbezügliche Einigung stellte die Kommission jedoch alle Prüfungsverfahren für die Zulassung von Botanical-Claims ein.
Bis heute besteht diese Situation unverändert fort: Bei der Kommission „verstauben“ seit 2010 mehr als 2.000 angemeldete Angaben insbesondere für Botanicals, über die bisher nicht entschieden wurde (sog. „on-hold claims“; veröffentlicht von der Kommission/EFSA). Auch eine im Jahr 2020 abgeschlossene Evaluierung der HCVO brachte keinen Fortschritt.
Übergangslösung
Grundsätzlich hätte dies zur Folge, dass gesundheitsbezogene Werbung für Botanicals in Lebensmitteln stets unzulässig wären, da für sie schlicht keine zugelassenen Angaben existieren. Lediglich die Übergangsvorschriften in Art. 28 Abs. 5 und 6 HCVO eröffnen einen gewissen Spielraum: Danach dürfen gesundheitsbezogene Angaben bis zur Festlegung der Gemeinschaftsliste grundsätzlich verwendet werden. Die nationalen Gerichte verstehen diese Vorschrift im Fall von Botanicals so, dass jedenfalls die angemeldeten, aber zurückgestellten „on-hold claims“ verwendbar sind (so auch in Erwägungsgrund 9 der VO (EU) Nr. 536/2013 und Erwägungsgrund 11 der VO (EU) Nr. 432/2012 vorgesehen).
Diese Option ist jedoch mit einer deutlichen Warnung zu versehen: Denn in diesen Übergangsfällen ist der Lebensmittelunternehmer dafür verantwortlich, dass auch die übrigen Vorgaben der HCVO eingehalten werden. Diese beinhalten insbesondere eine wissenschaftliche Absicherung der Wirksamkeitsbehauptung. Ob hierfür die gleichen Voraussetzungen wie im Prüfungsverfahren von Kommission und EFSA gelten oder ob im Rahmen der Übergangsvorschrift geringere Nachweisanforderungen anzuwenden sind, ist ungeklärt. Die nationalen Gerichte legen tendenziell einen strengen Maßstab an, für dessen Erfüllung der Unternehmer die Beweislast trägt (EuGH, Urteil vom 10.09.2020, C‑363/19 – Mezina AB). Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Botanical-Claims enden daher häufig mit einer Untersagung. Ohne einschlägige und hochwertige wissenschaftliche Nachweise führt so auch die Übergangsvorschrift nicht heraus aus der „Botanical-Sackgasse“.
BGH-Vorlagebeschluss
Der Vorlagebeschluss des BGH wirft nun wieder ein Licht auf „Botanicals“. In dem Klageverfahren hinsichtlich des Nahrungsergänzungsmittels „Adapto Genie Anti-Stress Komplex“ hatte der Kläger die Werbeangaben der Beklagten („stimmungsaufhellend“, „Verbesserung des emotionalen Gleichgewichts“ etc.) im Hinblick auf die enthaltenen Inhaltsstoffe Melonensaft-Extrakt und Safran-Extrakt als Verstoß gegen die HCVO gewertet. Der BGH identifiziert zwei Ansätze zum weiteren Vorgehen: Einerseits könnte nach der überwiegenden Auffassung der Instanzgerichte vorzugehen und Art. 10 HCVO auch auf Botanical-Claims anzuwenden sein. Anstelle der Gemeinschaftsliste müssten jedoch gesundheitsbezogene Angaben aus dem Fundus der bereits angemeldeten „on-hold claims“ verwendet werden.
Daneben erwägt der BGH jedoch auch eine zweite Option: Das Verbot in Art. 10 HCVO könnte auf Botanical-Claims angesichts der langjährigen Untätigkeit der Kommission überhaupt nicht mehr anwendbar sein, solange diese Angaben nicht von der Kommission geprüft worden sind. Hierfür spreche, dass die EU mit der HCVO Werbeangaben für Botanicals nicht generell untersagen wollte, sondern ihrer Verwendung lediglich eine Prüfung und Zulassung vorschalten wollte. Dieser Wille des Verordnungsgebers würde jedoch derzeit für eine ganze Stoffklasse in ihr Gegenteil verkehrt und basiere allein auf der „bloße[n] Entschließung der Kommission zur Untätigkeit“. Darüber hinaus könne das Vollzugsdefizit der Kommission auch grundrechtlich relevant sein. Denn durch den jahrelangen Stillstand werde die unternehmerische Freiheit (Art. 16 der EU-Grundrechte-Charta) in einer wohlmöglich unverhältnismäßigen Weise eingeschränkt. Darüber hinaus könnten hierdurch Lebensmittelunternehmer, die mit Botanicals werben möchten, gegenüber Wettbewerbern diskriminiert werden, deren verwendete Stoffe keinem Prüfungsstopp der Kommission unterliegen. Die Verbote in Art. 10 HCVO könnten angesichts des mehrjährigen Vollzugsdefizits der Kommission daher eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der rechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen darstellen. Nach dieser Ansicht würde die Verwendung gesundheitsbezogener Angaben für Botanicals gar nicht mehr durch die HCVO reglementiert, solange die Untätigkeit der Kommission andauert.
Der I. Zivilsenat spricht sich nicht ausdrücklich für einen der beiden Ansätze aus. Dennoch ist bemerkenswert, dass der BGH die bisherige Praxis nicht weiter hinnimmt, sondern auch mit grundrechtlichen Erwägungen die Möglichkeit eröffnet, die Verbote des Art. 10 HCVO für Botanicals vollständig außer Vollzug zu setzen. Als letztinstanzliches Gericht ist der BGH zwar zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn er mit streitentscheidenden Auslegungsfragen des Unionsrechts konfrontiert ist (Art. 267 AEUV). Allerdings hätte der I. Zivilsenat seine Vorlagepflicht auch mit dem Argument umgehen können, dass die bisherige Praxis der Instanzgerichte die offenkundig richtige Auslegung der HCVO sei („acte clair“) und es hierfür keiner Antwort durch den EuGH bedürfe. Die Tatsache, dass der BGH sich gegen diese Option entschieden hat und mit deutlichen Worten auch die Grundrechtsrelevanz der Frage betont, verdeutlicht seine mangelnde Bereitschaft, den status quo weiter hinzunehmen. Angesichts von nunmehr 13 Jahren Stillstand war eine Vorlage an den EuGH jedoch auch überfällig.
Mögliche Auswirkungen
Mit seinem Vorlagebeschluss erhöht der BGH den Druck auf die Europäische Kommission, eine Lösung für das Problem der wissenschaftlichen Prüfung von Botanical-Claims zu finden. Bereits im Mai 2022 hatte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) ein Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio vorgestellt, wonach die Untätigkeit der Europäischen Kommission die Rechte von Herstellern verletze.
Direkte Klagen gegen die Entscheidung der Kommission, die Bewertung von Botanical-Claims unbefristet auszusetzen, hat der EuGH bisher immer abgewiesen. Dabei erkannte der Gerichtshof jedoch zuletzt an, dass die bestehende Übergangssituation nicht dem Gesetzeszweck entspreche und Hersteller von Botanicals ein anzuerkennendes rechtliches Interesse an einer Prüfungsentscheidung haben (EuGH, Urteil vom 23.11.2017 – C-596/15P und C-597/15P Rn. 91 ff. – Bionorica und Diapharm). Bei den dortigen Klägern handelte es sich jedoch nicht um Botanical-Hersteller, sodass der EuGH die Klage letztlich aus formalen Gründen abwies. Diese Zulässigkeitsfrage steht einer Entscheidung des EuGH im Rahmen des nun eingeleiteten Vorabentscheidungsersuchens nicht im Wege.
Schließt sich der EuGH den o. g. grundrechtlichen Bedenken an, müsste die Kommission die EFSA anweisen, die Prüfung der zurückgestellten Botanical-Claims wiederaufzunehmen. Die Frage des wissenschaftlichen Maßstabs der Prüfung wäre damit jedoch weiterhin ungeklärt. Denkbar wäre zwar, dass für einen Übergangszeitraum der Vollzug von Art. 10 HCVO ausgesetzt wird und hierdurch schlagartig Spielräume für die Werbegestaltung für Botanical-Produkte entstünden. Verlangt die EFSA dann jedoch – wie für andere Stoffklassen üblich – hochwertige Studien, dürfte die überwiegende Anzahl der angemeldeten Botanical-Claims zunächst abgelehnt werden.
Die Auseinandersetzung um wissenschaftliche Nachweisanforderungen, die verhältnismäßig sind und Lebensmittelhersteller nicht gegenüber Arzneimittelherstellern diskriminieren, müsste dann im Rahmen von Nichtigkeitsklagen gegen die Ablehnungsentscheidungen der Kommission geführt werden. Idealerweise würde der aus dem Arzneimittelrecht bekannte Traditionsnachweis daher bereits vor einer Prüfung der zurückgestellten Botanical-Claims eingeführt werden. Im besten Fall liefert das Vorabentscheidungsersuchen des BGH hierfür einen geeigneten Anlass.
Mit einer Antwort des EuGH ist frühestens zum Ende des Jahres 2024 zu rechnen.